Der Tigerbiss auf dem Weihnachtsmarkt by Ralf Romahn

Der Tigerbiss auf dem Weihnachtsmarkt by Ralf Romahn

Autor:Ralf Romahn [Romahn, Ralf]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Das Neue Berlin
veröffentlicht: 2015-08-16T16:00:00+00:00


Der Fensterer im Altersheim

Katrin fuhr mit dem Finger die Zeilen des Ausgangsbuches ab und setzte mit dem Bleistift Häkchen hinter die Unterschriften der Altersheimbewohner. In der ersten Spalte notierten diese hinter ihrem Namen, wann sie von einem Ausgang zurück sein würden, und in der zweiten unterschrieben sie neben der tatsächlichen Zeit ihrer Rückkehr. Schwester Katrin stellte durch die kleinen Bleistifthäkchen sicher, dass sie nicht übersah, wenn jemand fehlte. Was die Arbeit betraf, war ihr Sorgfalt auch ein persönliches Bedürfnis. Es war gerade Ende Mai 1990, und damit kamen für die Bewohner gleich zwei Anreize für regelmäßige Ausgänge zusammen: die offene Grenze und das gute Wetter. Das Buch war also voller als üblich und konnte nicht nur mit einem schnellen Blick kontrolliert werden. Es lag an der Rezeption der Pflegestation im Erdgeschoss aus, und wer die Rezeption betreute, behielt auch das Buch im Auge.

Dort stand nun Katrin und verharrte mit dem Finger auf einem Namen: »Hm, Frau Moll wollte eigentlich um 15 Uhr zurück sein. Seit über einer Stunde überfällig. Komisch. So kenn ich sie gar nicht.« Diese Feststellung versetzte die Pflegeschwester jedoch nicht in Hektik– das Heim war schließlich kein Gefängnis, die Zeitangaben wurden freiwillig gemacht, damit Besucher Bescheid wussten, wann ihr älteres Familienmitglied zurück sein würde. Aber auch, damit sich jemand um Hilfe kümmerte, sollte ihm unterwegs etwas zugestoßen sein. Wenn sich Bewohner nicht wieder eintrugen, lag das meist daran, dass sie es schlichtweg vergessen hatten.

Katrin wählte Frau Molls Nummer. Der Zimmerapparat klingelte mehrfach, doch niemand nahm den Hörer ab. Manchmal hörten die alten Herrschaften das Telefon nicht, waren eingenickt oder standen auf dem Balkon, vor dem der Straßenverkehr rauschte. Meldete sich niemand, musste die Pflegeschwester selbst nachsehen. So fuhr Katrin nun mit dem Fahrstuhl nach oben. Im dritten Stock klopfte sie an die Tür von Frau Molls Apartment, erhielt aber auch hier keine Antwort.

»Frau Moll! Sind Sie da? Hier ist Schwester Katrin. Bitte antworten Sie, wenn Sie zu Hause sind!«

Vorsichtig legte sie das Ohr an die Tür, konnte aber nichts hören. Sie seufzte kurz und holte dann den Generalschlüssel aus der Seitentasche ihres Kittels. Es gelang ihr aber auch im dritten Anlauf nicht, ihn ins Schloss zu bekommen.

»Das kann doch nicht wahr sein. Steckt da der Schlüssel von innen?« Sie klopfte noch einmal laut an, lief dann aber gleich zügig zurück zum Fahrstuhl. Da musste jetzt rasch der Hausmeister ran. Um schneller zu sein, nahm sie die Treppe, wo sie sogleich dem Gesuchten, Meidel, begegnete.

»Hulla, äh, hallo«, grüßte der gereifte Handwerker im Versuch eines flotten Scherzes. Katrin hatte dafür allerdings keine Nerven.

»Komm mal bitte schnell! Wir müssen im Dritten in ein verschlossenes Zimmer.«

Meidel folgte ihr und versuchte, oben angekommen, den Schlüssel mit einer dünnen Stechahle aus dem Schloss zu drücken. Dann nahm er noch einen Draht dazu. Aber im Schloss bewegte sich nichts. Er seufzte entnervt.

»Das Ding ist herumgedreht. Mann, ey. Himmel, Arsch und Zwirn! Den krieg ich so nicht raus. Müsste das Schloss ausbauen. Vielleicht geht’s schon mit Bohren.« Nun schob er die Hände vor dem runden Bauch in die Taschen seines Blaumanns und verzog grübelnd den Mund.



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